Menschen auf einer Baustelle
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„Wenn Ressourcen extrem ausgereizt werden, funktioniert Lean nicht“

Als Manager in der internationalen Industrie hat Wolfgang Grasl wertvolle Erfahrungen in der Prozessgestaltung gewonnen. Als Lean-Experte hilft er, Prozesse zu verbessern, um Ressourcen zu schaffen, um weitere Prozessverbesserungen zu erreichen und so eine positive Spirale in Gang zu setzen. So kann Lean gelingen, auch in der Baubranche.

Meist holt man sich Beratung, wenn etwas schief läuft. Wie ist das bei Lean-Beratung? Kommen die Unternehmen auf Sie zu, wenn der Hut brennt oder geht es den Firmen darum, grundsätzlich Prozesse zu verbessern?

Natürlich gibt es die Fälle, wo Firmen ein akutes Problem haben und eine Verbesserung on the spot benötigen. Dann springt man auf einer Baustelle, wo der Zeitplan völlig aus dem Ruder läuft, ein und hilft, mit Visualisierungen, Besprechungen, mit Dingen, die kurzfristig zu Verbesserungen führen. Das ist eher Consulting als wirkliche Befähigung, weil es kurzfristig und schnell gehen muss. Die Mehrheit der Fälle – und wenn ich es mir aussuchen kann – sind aber ganzheitlich und langfristig angelegt. Das heißt, ich versuche, wirklich die Leute zu befähigen, sodass sie das „Wofür“ verstehen und es selbst wollen und können.

Porträt Wolfgang Grasl
Lean-Experte Wolfgang Grasl (© Manfred Baumann)

Wie funktioniert das?

Dazu gehört, von der Geschäftsführung weg bis zur Planung und dann in Richtung Schnittstelle ausführende Gewerke, zu erklären, welche Vorteile Lean haben kann. Wenn das Interesse geweckt ist, geht es sehr viel um Kommunikation. Nach meiner Erfahrung treten gerade am Bau oft Probleme durch fehlendes gemeinsames Verständnis und mangelnde Kommunikation auf. Dadurch entstehen Verzögerungen und Mehrkosten, z.B. durch Gewerke die sich gegenseitig behindern oder wieder abreisen müssen, weil der Vorgänger noch nicht fertig ist. Wenn ich es schaffe, zehn bis 30 Prozent der Verzögerungen herauszunehmen, dann habe ich schon wahnsinnig viel gewonnen, denn die lassen die Projekte im Endeffekt sowohl von der Zeitschiene als auch fast immer vom Budget her aus dem Ruder laufen. Es ist am Bau relativ leicht, die low hanging fruits, also die einfachen Dinge, zu ernten.

Was ist so schwierig an der Vermittlung an Lean Construction, warum gibt es noch so wenige lean abgewickelte Projekte in der Baubranche?

Ich denke, dass die Lean-Philosophie, also den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, die Fehlerkultur, Dinge möglichst schnell an die Oberfläche zu bringen, um dann darauf zu reagieren, das alles hat in der Baubranche keine Tradition. Fehler, die sich quasi „flussabwärts“ im Wertstrom oder im Informationsstrom auswirken, werden nicht billiger, die werden nur teurer für die Organisation. Gleichmäßigkeiten schaffen, Unbalanciertheiten aus den Prozessen herausbringen, die Leute befähigen, diese Stolpersteine, Hindernisse oder Verschwendungen im Prozess nicht nur zu erkennen, sondern sie auch zu reduzieren oder zu beseitigen – all diese grundlegenden Dinge von Lean, die sind völlig branchenunabhängig. Sehr oft hören wir von Firmen: Wir sind ein spezieller Fall, bei uns ist es ganz anders. Aber das ist eine Ausrede. Das hat viel mit Change Resistance zu tun. Was Neues auszuprobieren, Veränderungen zuzulassen, da sind die meisten Menschen generell nicht so offen dafür. Man hat lieber das bekannte Übel, als das Unbekannte, das vielleicht besser ist.

Hat das mit dem Österreicher oder mit der Baubranche zu tun?

Ich glaube, dass der Österreicher stärker in diese Richtung ausgeprägt ist als so manch anderer. Und ich glaube auch, dass die Baubranche da ein bisschen stärker ausgeprägt ist als so manch andere. Ich habe vor ungefähr 20 Jahren mit Lean begonnen, seit zehn Jahren bin ich selbstständig. In dieser Zeit habe ich eine Faustregel für mich gefunden – die nicht immer, aber mit erschreckender Häufigkeit stimmt:  Je näher man in Richtung Rohstoffquelle geht, desto stärker wehrt sich die Branche gegen Veränderungen. Mit Rohstoffquelle meine ich zum Beispiel die Stahlindustrie. Die Industrie, die den Stahl herstellt, ist meiner Erfahrung nach viel weniger veränderungsbereit als der nächste Verarbeiter oder der übernächste, der letztendlich ein Auto daraus baut. Der Autobauer, der ist schon ziemlich gut unterwegs. Der Fairness halber muss man aber auch sagen, dass die Baubranche einige besondere Herausforderungen hat. Das beginnt bei den vielen unterschiedlichen Parteien, die zusammenarbeiten müssen, wo jeder natürlich zuerst auf sich selbst schaut. Dabei wäre es auch für jeden einzelnen im Endeffekt besser, wenn er über die eigenen Silogrenzen hinweg schaut und im Sinne des Gesamtergebnisses und des Kundennutzens handelt. Reklamationen, Zeitverzögerungen, Ärgernisse würden dadurch weniger werden. Und es endet bei scheinbar unterschiedlichen Interessen und dem bekannten Sprachgewirr.

Um den Lean-Gedanken im Unternehmen zu implementieren, wer muss im Unternehmen überzeugt sein beziehungsweise überzeugt werden?

Es gibt zwei Wege, wie Firmen an mich herantreten beziehungsweise warum diese mit Lean beginnen möchten. Der beste Fall für mich: Es gab einen Führungswechsel und derjenige, der jetzt auf die Position kommt, nimmt aus seiner Vergangenheit Lean-Erfahrungen mit. Dem brauche ich nicht erklären, wie es funktioniert und dem brauche ich schon gar nicht erklären, dass es funktioniert. Der möchte die Lean-Kultur im neuen Unternehmen einführen und fragt um Unterstützung an. Im anderen Fall beginnt es, wie ich eingangs erwähnt habe, mit Consulting on the spot. Bevor wir aber irgendwas verbessern, müssen wir erst einmal ein gemeinsames Verständnis für den Prozess herstellen. Dann stellen sich automatisch Fragen wie: „Wie mache ich eine Ursachenanalyse, wenn es wiederkehrende Probleme gibt? Die Mitarbeiter wachsen dann langsam in eine Fehlerkultur hinein oder generell in die Kultur, wo Prozesse ständig hinterfragt und verbessert werden. Die nächste Frage ist: Wie können wir tatsächlich kürzere Durchlaufzeiten schaffen, indem Prozesse besser ins Fließen kommen? Das ist dann eher ein langfristig angelegter Prozess. Meist geht es aber um eine konkrete Verbesserung.

Wie oft kommt es vor, dass ein Unternehmer Lean nur einführen möchte, um Kosten zu sparen?

Das passiert, aber Lean ist kein Kostenreduzierungsprogramm. Das heißt, wenn mich jemand unter dem Vorzeichen einlädt, Kosten zu sparen, dann spendiere ich ihm gerne zwei Stunden und mache einen Lean-Impulsvortrag, um aufzuklären, was Lean eigentlich ist und was ich eigentlich mache. Dann sagt er entweder: „Nein, danke, das ist für uns doch nicht das Richtige im Moment“, oder: „Das eine oder andere klingt schon interessant, machen wir das mal gemeinsam. Aber generell geht es nicht um Kosteneinsparungen oder Personalreduktion. Dafür stehe ich nicht zur Verfügung.

Aber wenn Prozesse besser laufen, spart man doch automatisch Kosten ein?

Kosteneinsparungen ergeben sich sehr häufig, weil diese sogenannten Verschwendungen weniger werden, weil die Durchlaufzeiten kürzer werden. Bei Lean-Baustellen werden Projektzeiten und projektierte Budgets wesentlich besser eingehalten und es gibt gleichzeitig wesentlich weniger Claims und Nachbesserungen. Mitunter gibt es auch keine Kostenreduktion, weil die gewonnene Zeit investiert wird in neue Geschäftsfelder oder zusätzliche Kunden oder einfach, um mehr aus dem momentanen Geschäft zu machen. Darüber hinaus muss man sehen, dass die wesentlich verbesserten Abläufe in den wertschöpfenden Bereichen, wie auf einer Baustelle, unter anderem einen Mehraufwand in der Logistik benötigen. Das würde man natürlich nicht tun, wenn es sich nicht wirklich auszahlt.

Ist die Umsetzung von Lean in erster Linie ein Ressourcenproblem?

Wenn ich Ressourcen extrem ausreize, dann funktioniert Lean nicht, da man Zeit für Verbesserungen braucht. Am Anfang ist die Zeit extrem knapp, das ist mir schon klar. Aber wenn ein Unternehmen oder eine Abteilung es schafft, mit z.B. einer Wertstrom- und Prozessflussanalyse und den daraus entstehenden Verbesserungen fünf, sechs Prozent – das ist wirklich locker möglich durch weniger Nachtelefonieren, Suchzeiten, Frustzeiten, nenne ich es als Überbegriff –zu reduzieren, dann bleibt ein bisschen Luft, sich einmal pro Woche eine Stunde Gedanken zu machen und die nächste Sache anzugehen. Dadurch wird diese Positivspirale in Gang gesetzt.

Also gewonnene Zeit sollte wieder in Prozessverbesserungen investiert werden?

Lean Vorzeigebetriebe sagen, zehn Prozent der Arbeitszeit sollte für Verbesserungen zur Verfügung stehen. Dann geht ein Ruck durch den Betrieb und ein lebendiges Lean kann entstehen. Wenn ich diese zehn Prozent sofort wieder mit zusätzlichen Aufträgen ausfülle, dann stirbt das System. Es geht um ein System der kontinuierlichen Verbesserung. Zehn Prozent Spielraum, um weiter innovativ sein zu können, Innovativ entweder in der Gestaltung neuer Produkte oder aber in der Verbesserung der alten Produkte oder Prozesse. Diese zehn Prozent gebe ich auch nicht weiter, um billiger zu werden. Sondern die behalte ich und dann kann Lean leben. Das ist eine strategische Entscheidung als Unternehmen, ob ich das will oder nicht.

Wolfgang Grasl

ist Gründer und Geschäftsführer von „Lean-Experts“, Berater, Trainer, Coach. Er hat ein Master Studium in „Lean & Operations Management” (Lean Leadership, 1.0) und ist Gewinner des internationalen „Consense Award“ für „Lean Leadership“