"Aus Donuts müssen Krapfen werden!"
Die verwinkelte Altstadt, der belebte Marktplatz oder das idyllische Dorfzentrum. Diese Bilder haben wir im Kopf und empfinden sie als schön. Aber warum? Ist es die Architektur? Sind es die Materialien und Oberflächen? Das Wesentliche ist nicht die gebaute Welt, sondern es sind die Menschen, die in dieser Welt leben und Atmosphäre mitgestalten: Ihre Stimmen, verschiedene Szenen, Flaneure und Geräusche, eine angenehme Form von Hektik. Ein Platz ohne Menschen ist nicht nur leer, sondern auch leise. Wenn Menschen den öffentlichen Raum beleben, machen sie ihn für sich selbst lebenswert.
Was führt die Menschen in das Zentrum ihrer Stadt, ihrer Gemeinde oder ihres Dorfes?
Sie gehen nicht dorthin, weil sie gerne spazieren gehen, sondern um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Im pulsierenden Herz eines Ortes waren seit jeher wichtige Funktionen des täglichen Lebens angesammelt. Vom Wohnen über das Arbeiten bis zum Einkaufen und der Freizeit. Viele dieser unterschiedlichen Nutzungen kann ein funktionierendes Zentrum in unmittelbarer Nachbarschaft ermöglichen. Nicht selten wird ein städtisches Gefüge deshalb mit etwas Lebendigem verglichen: Die Ortsmitte hält eine Stadt oder ein Dorf zusammen und versorgt sie wie das Herz seinen Organismus.
Aber stimmt das eben beschriebene Bild heutzutage noch? Noch nie stand die Herausforderung, wie mit den Leerständen im Zentrum der eigenen Stadt oder Gemeinde umzugehen ist, an so zentraler Stelle der gesellschaftlichen Diskussion. Denn das Phänomen der aussterbenden Orts- und Stadtkerne ist nicht zu übersehen. „Durch die rapide Überalterung im ländlichen Raum und die jahrzehntelange monofunktionale Siedlungserweiterung an den Ortsrändern kommt es schnell zum Donut-Effekt“,erklärt Hilde Schröteler von Brandt, Professorin an der Universität Siegen in Deutschland. „Das bedeutet, dass sich zuerst die identitätsprägenden Ortszentren entleeren. Wo die Einwohner fehlen, rutschen auch die Handelsflächen mit ins Donut-Loch.“
Zentrum vs. Rand: Eine echte Herausforderung für europäische Orte
Dass Stadt- und Dorfzentren verstummen, hat viele Gründe – ein wesentlicher ist die gestiegene Automobilisierung der letzten Jahrzehnte, durch die sich viele vitale Funktionen an die Ortsränder verlagerten und die Nutzungstrennung forciert wurde. Zuerst entstanden ausgedehnte Einfamilienhausgebiete, bald folgten die Handels- und Einkaufszentren und mittlerweile finden sich da und dort auch Verwaltungs- oder Gesundheitseinrichtungen in peripheren Lagen.
Denn der Donut-Effekt – die Verlagerung an den Rand und die damit einhergehende Verödung der Zentren – ruiniert die Gemeinden. Er entzieht den Orten ihren Boden und ihre Identität und macht sie für kommende Generationen unattraktiv. Wir brauchen ein umfassendes Bewusstsein für den sparsamen und intelligenten Umgang mit Grund und Boden. Das wird zwar in vielen Papieren formuliert und gefordert, jedoch werden nach wie vor täglich durchschnittlich rund 80 Hektar in Deutschland (u.a. Deutscher Baukulturbericht) bzw. 20 Hektar in Österreich (u.a. Österreichischer Baukulturreport) verbaut, was mit 100 Fußballfeldern in Deutschland bzw. 30 Fußballfeldern in Österreich gleichzusetzen ist. Trotz hohem Leerstand in gut erschlossenen Ortskernen werden die meisten dieser neuen Einfamilienhaus- oder Gewerbegebiete in flächenverbrauchenden, neuen Baugebieten am Ortsrand umgesetzt. Es wäre jedoch wesentlich klüger und vor allem auch ressourcenschonender, unsere verödeten Orts- und Stadtzentren mit kreativen und zeitgemäßen Formen von Wohnen, Arbeiten, Handel und Freizeit zu beleben, vorhandene Gebäude und Flächen zu nutzen, umzubauen, weiter zu bauen oder, wo noch Platz ist, neu zu bauen. Diese kompaktere Bauweise und höhere Dichte sowie die dabei entstehenden Nutzungsdurchmischungen dämmen den Flächenverbrauch ein und sind essentiell für den Sozialraum der Menschen und auch für ein intaktes Ortsbild.
Wir brauchen einen Krapfen-Effekt!
Es ist dringend an der Zeit, dass aus Donuts Krapfen werden! Das leere Donut-Loch soll mit innovativen Füllungen wieder genießbar werden, weil wir von einer Sache auch Abschied nehmen müssen: Der Handel seiner klassischen Form ist nicht mehr zurückzuholen, dieser ist verloren. Jetzt geht es darum, neue Krapfenfüllungen zu finden. In der Mitte, im Zentrum darf kein Loch, keine Leere sein. Hier braucht es die Fülle des Lebens. Damit das süße Leben wieder in die Ortszentren zurückkehren kann, ist ein umfassendes Bündel an Maßnahmen und vor allem das Rückgrat und die Ausdauer der handelnden Personen vor Ort notwendig - Ziel: der „Krapfen-Effekt“. An oberster Stelle steht das Bekenntnis der Politik und Verwaltung zu Innenentwicklung vor Außenentwicklung. Das bedeutet: volle Konzentration auf die Stärkung der Ortsmitten und die Potentiale der Nachverdichtung im Bestand und eine klare Absage an die Zersiedelung im Speckgürtel, die „den Donut“ fördert.
Ein weiterer Schritt ist es, die Bürgerschaft mit mutiger Öffentlichkeitsbeteiligung zum gemeinsamen Weiterdenken zu motivieren und mit ihr eine Vielzahl an Ideen gemeinsam zu entwickeln. Das ist ein entscheidender Schritt in Richtung eines umfangreichen Raumrezeptes, mit dem sich am Ende die ganze Gemeinde wohlfühlt. Die Bürgerinnen und Bürger sind vom ersten Akt der Ideenfindung bis zur konkreten Umsetzung als Experten für den eigenen Ort in die Veränderungsarbeit einzubeziehen. Gleichzeitig muss das Bewusstsein in der Bürgerschaft für den sparsamen und intelligenten Umgang mit Grund und Boden umfassend geschärft werden.
Der dritte Schritt zum Krapfen-Effekt ist die Installierung eines Zentrumskümmerers. Es hat sich gezeigt, dass für eine erfolgreiche Ortskernbelebung ein sogenannter Kümmerer benötigt wird, der dafür Sorge trägt, dass die im Masterplan vorgesehenen Projekte bedarfsorientiert und zeitgemäß umgesetzt werden. Diese Person stellt nicht nur das Gesicht des Veränderungsprozesses dar, sondern hat auch die Aufgabe, die richtigen Menschen in den richtigen Situationen zusammenzubringen, offen zu sein für neue Ideen und Vorschläge weiterzuentwickeln, nützliche Netzwerke aufzubauen, Wissen sichtbar zu machen, im Hintergrund die Fäden zu ziehen und Umsetzungen zu managen. Das alles ist notwendig um eine neue Kultur der Erdgeschoßnutzungen in die Innenstädte und Ortskerne zu bringen, von denen man bis dato vielleicht noch nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Ein richtiger Zentrumskümmerer sieht in der Innenstadtstärkung nicht nur einen Job, sondern eine Berufung.
„Endlich treffen wir uns wieder am Dorfplatz und nicht mehr nur auf dem Friedhof“
Es gibt zahlreiche Orte, an denen auch nonconform einen Beitrag zum Krapfen-Effekt leistet: In der Tiroler Gemeinde Fließ wurde ein nutzungsdurchmischtes Ensemble mit Wohnen, Arbeiten, Einkaufen und Freizeit (Architektur Köberl/Kröss) am Areal mehrerer leerstehender Gebäude entwickelt. Die Gemeinde wurde dafür nicht nur mit dem Baukulturgemeinde-Preis, sondern auch mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis ausgezeichnet.
Ähnliche Projekte mit Strahlkraft wurden in der Tiroler Gemeinde Mils (Architektur: DIN A4 Architektur) sowie der niederösterreichischen Stadtgemeinde Haag (Architektur: nonconform) umgesetzt, wobei hier kulturelle Aktivitäten in der neu geschaffenen Ortsmitte den Ausgang bildeten und einen Schneeball-Effekt erzeugten. In Munderfing in Oberösterreich steht derzeit die Neudefinition des seit 40 Jahren leerstehenden Wirtshauses am Dorfplatz zu einem Multifunktionsort für Seminare, Kulinarik und temporäres Wohnen im Fokus. Im steirischen Trofaiach wird das gesamte Stadtzentrum mit sehr vielfältigen neuen „Marmeladefüllungen“ aus Orten für Spezialisten, einer Musikschule, neuen Gaststätten, alternativen Büros und Gewerbe, Mobilitätsknoten, Kultur und einer Begegnungszone weiterentwickelt und dabei von einem Zentrumskümmerer professionell begleitet. Die Kärntner Gemeinde St. Andrä im Lavanttal hat als Impuls zur Entwicklung ein nutzungsgemischtes Rathaus am Grundstück eines Leerstandes errichtet, es folgten ein Nahversorger mit Kaffeehaus, Wohnen und eine Bank ins Zentrum. Auch ein Erlebnisweg an der Stadtmauer wurde errichtet, damit die Innenhöfe und Durchwegungen neue Qualitäten erhalten. Und im Kärntner Moosburg ist neben Impulsen zu Wohnen und Bildung auch ein Co-Working Space in einem Leerstand entstanden, der gerade einer Erweiterung erfährt. St. Andrä und Moosburg wurden dafür ebenfalls mit dem Europäischen Dorferneuerungspreis prämiert.
All diese – und sicherlich auch noch einige weitere – Orte sind dabei, den Turn-Around zu schaffen. Die Verantwortlichen haben die Tragweite erkannt und auf den Krapfen-Effekt gesetzt, das heißt die volle Konzentration auf die langfristige Entwicklung eines modernen und nutzungsvielfältigen Orts- und Stadtkerns gelegt. Dabei werden spannende Projekte mit höchster baukultureller Qualität umgesetzt. „Endlich treffen wir uns wieder am Dorfplatz und nicht mehr nur auf dem Friedhof“, so eine ältere Dame bei der Eröffnung des neuen Ortszentrums in Fließ.
Der gelebte Krapfen-Effekt im Sinne innovativer Gemeinde- und Stadtzentrums-Entwicklung mit Bürgerbeteiligung ist die Basis für eine positive Veränderung unserer Orte. Die nonconform ideenwerkstatt kann dafür die Basis legen und die notwendige Akzeptanz für die Realisierung mutiger Vorzeigeprojekte schaffen.
Roland Gruber, geboren 1972 in Bad Kleinkirchheim in Kärnten, Studium der Architektur in Linz und Zürich sowie Studium Kulturmanagement in Salzburg. Mitgründer, Partner und Geschäftsführer von nonconform, einem Büro für Architektur und partizipative Raumentwicklung an den Standorten Wien, Berlin, Bayern, Oberösterreich, Kärnten und Steiermark.
Er ist auch Mitinitiator und Kurator der nonconform Leerstandskonferenz, Mitgründer und Vorsitzender von LandLuft – einem Verein zur Förderung von Baukultur in ländlichen Räumen sowie Mitgründer von Creative Villages und den Zukunftsorten – einer Plattform für innovative Gemeinden.