Faire Bauverträge
Zugegeben: „Alles wird komplizierter“ (© Altbundeskanzler Dr. Fred Sinowatz). Aber das zusätzliche Papier hat weder zu mehr Rechtssicherheit bei den Beteiligten noch zu mehr Kostensicherheit geführt. Es ist für den Juristen nur schwer verständlich, dass gerade Techniker manisch dazu neigen, Bauverträge mit rechtlichen Bedingungen völlig zu überfrachten. Je mehr Vertragsgrundlagen rechtliche Regelungen enthalten, umso strahlender werden die Augen der beteiligten Ingenieure: das Auftragsschreiben, die ÖNORM B 2110, die Allgemeinen Vertragsbedingungen des Auftraggebers, die Besonderen Vertragsbestimmungen für das Großbauwerk „Soundso“, die RVS und die Leistungsgruppe 00 des Leistungsverzeichnisses werden zur Vertragsgrundlage gemacht. Widersprüche und Unklarheiten sind die unausweichliche Folge.
Bei einem solchen Vertrags-Tohuwabohu sind sogar dem Obersten Gerichtshof die Sicherungen durchgebrannt: Er wies eine Revision mit der Begründung zurück, es könne nicht Aufgabe des Obersten Gerichtshofes sein, ein unklares und widersprüchliches Vertragswerk auszulegen. Es sei nicht seine Sache, die Sorglosigkeit in eigener Sache von in derartigen Angelegenheiten versierten Vertragsparteien zu sanieren. Es wäre vielmehr Aufgabe der Vertragsparteien, ein einheitliches Vertragswerk zu erstellen. Diese (wenn auch rechtlich fragwürdige) Entscheidung zeigt aber: Oft wäre weniger mehr. Auftraggeber die glauben sich mit hypertrophen, aufgeblähten und die Grenze der Sittenwidrigkeit überschreitenden Bauverträgen zu 100 Prozent absichern zu können, schießen sich ins eigene Knie. Wer den Kopf der ausführenden Unternehmen unter Wasser drückt, darf sich nicht wundern, wenn der erste Nachtrag bereits am Tag der Vertragsunterfertigung in der Schublade liegt. Leben und leben lassen wäre als Motto der Vertragsgestaltung wirtschaftlich vernünftiger.
Am meisten tun mir die Kalkulanten der Baufirmen leid, die immer häufiger mit grottenschlechten Ausschreibungen zu kämpfen haben. Viele Bauherren erwarten, dass der Kalkulant nicht nur das Leistungsverzeichnis auspreist (was selbstverständlich ist), sondern auch Tausende Seiten Ausschreibungsunterlagen in detektivische Kleinarbeit durchforstet, um alles, was kalkulationsrelevant ist, zu erfassen. Das ist unzumutbar. Maßgebendes Dokument für die Kalkulation ist das vom Bauherrn erstellte Leistungsverzeichnis. Der Kalkulant muss nicht danach suchen, ob vielleicht an anderer Stelle des Vertrages etwas Kalkulationsrelevantes steht. Das Bundesvergabegesetz sieht für öffentliche Auftraggeber ausdrücklich vor, dass die Leistungen bei einer konstruktiven Leistungsbeschreibung im Leistungsverzeichnis (nicht an anderer Stelle der Vertragsunterlagen!) eindeutig zu beschreiben sind. Dieser Grundsatz gilt auch für private Bauherren, weil er nur die vorvertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflichten konkretisiert. Der Kalkulant kann davon ausgehen, dass der Bauherr alle aus Gutachten und anderen Ausarbeitungen sowie aus Behördenauflagen gewonnenen Erkenntnisse in das Leistungsverzeichnis einfließen hat lassen.
Dies ist selbstverständlich, weil die Erstellung eines Leistungsverzeichnisses eine Planungsaufgabe ist, für die der Bauherr verantwortlich ist. Unbestreitbar ist, dass ein Kalkulant dem Schwierigkeitsgrad und den Besonderheiten der auszupreisenden Leistung gewachsen sein muss. Das heißt aber noch lange nicht, dass er das Bauwerk noch einmal durchzudenken oder zu konzipieren hat. Er ist keine eierlegende Wollmilchsau. Es wäre hoch an der Zeit, wenn so mancher Bauherr, der große Projekte ausschreibt – besser gesagt durch externe Berater ausschreiben lässt – sich wieder vor Augen führt, dass es auch nicht delegierbare Bauherrenaufgaben gibt. Dazu gehört bei institutionellen Bauherren auch die Kontrolle der Ausschreibungen vor deren Freigabe, sei durch internes Personal, sei durch externe Berater. Die dafür aufgewendeten Kosten sind im Vergleich zu den Kosten eines Abrechnungsstreits eine Lappalie.
Und was macht der Gesetzgeber, um dieser bedauerlichen Entwicklung entgegenzuwirken? Erraten! Er heizt das Feuer noch mehr an. Er hat die Normenbindung der öffentlichen Auftraggeber sukzessive abgeschafft. Öffentliche Auftraggeber haben in vielen Wirtschaftsbereichen ein Nachfragemonopol. Es besteht daher die Gefahr, dass sie ihre marktbeherrschende Stellung ausnützen, um in ihren Verträgen den Bietern gröblich benachteiligende Bestimmungen aufzuzwingen. Dies wäre nicht nur unter dem kartellrechtlichen Aspekt des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung bedenklich, sondern auch unter dem Aspekt der im ABGB verankerten Nichtigkeit gröblich benachteiligender Vertragsbestimmungen. Jeder weiß, dass es bei Ausschreibungen durch die öffentliche Hand so gut wie nichts zugunsten der Bieter zu verhandeln gibt.
Um die Zivilgerichte von der Individualprüfung gröblich benachteiligender Vertragsklauseln zu entlasten, hat der Gesetzgeber im Bundesvergabegesetz 2006 festgelegt, dass eigene Ausarbeitungen auf ein Mindestmaß zu beschränken sind, wenn geeignete rechtliche oder technische Leitlinien wie Önormen oder standardisierte Leistungsbeschreibungen vorhanden sind („Normenbindung“). Anstatt die im Gesetz aus dem Jahr 2006 ohnehin viel zu weich formulierte Normenbindung zu verschärfen, hat sie der Gesetzgeber in der letzten Vergaberechtsnovelle 2018 de facto gänzlich abgeschafft. Wer in letzter Zeit einen Vertrag der ÖBB in Händen gehalten hat, weiß was die neu gewonnene „Freiheit“ der öffentlichen Hand bedeutet. Das ist Wirtschaftspolitik in Österreich: Der Monopolist zementiert seine Macht ein. Super gemacht! ■