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Leitfäden der IG Lebenszyklus

Die IG Lebenszyklus hat zwei neue Leitfäden – „Der weite(re) Weg zum klimaneutralen Gebäude“ und „Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft im Bauwesen“ herausgegeben, die das Verständnis zur Errichtung klimaneutraler Gebäude und des Recyclings basierend auf Urban Mining schärfen sollen.

Produkte und Prozesse zu verantworten, die im Sinne der neu in Kraft getretenen EU-Taxonomie nachhaltiges Bauen und emissionsarme Lebenszyklen sichern, sind die Herausforderung der Stunde. Dafür legt die IG Lebenszyklus die beiden neuen Leitfäden auf. Beim Positionspapier zur Klimaneutralität der Gebäude wurden u.a. zwei aktuelle Masterarbeiten des Studiums „Energie- und Umweltmanagement“ der FH Burgenland am Campus Pinkafeld einbezogen. Diese fokussieren auf zwei Schwerpunkte: Einerseits der Entwicklung eines CO2-Fussabdruck-Modells für klimaneutrale Gebäude und andererseits ein Prognosemodell zur Realisierung des „Nationalen Energie- und Klimaplans“ (NEKP) mit Berücksichtigung politischer und fachlicher Einschätzungen.

Download des Leitfadens Klimaneutrale Gebäude

Die Quintessenz hinsichtlich der Klimaneutralität eines Gebäudes bestätigt einmal mehr, dass die mit der Errichtung und vor allem Nutzung der Gebäude im ländlichen Raum aufkommenden CO2-Emissionen durch die Mobilität die größte Belastung darstellen. Dies auch deshalb, weil der öffentliche Verkehr in abgeschiedenen Regionen mangelhaft ist und deshalb der PKW das Fahrzeug erster Wahl bleibt. Die damit verbundenen Infrastrukturen belasten die Vorhaben einer schadstoffarmen Bauwirtschaft.

Der lange Weg zur Klimaneutralität

Spannend ist bei der zweiten Masterarbeit die Diskrepanz zwischen politischer Vision und technischer Expertise. Während das „Best-Case-Szenario“ die Klimaneutralität für den elektrischen Energiebedarf für 2030, für Mobilität für 2040 und für die Gebäudeerrichtung für 2050 vorhersagt, erwarten Experten deutliche längere Zeiträume der Umsetzung. Außerdem ist auffällig, dass die Klimaschutzexperten selbst stark zwischen pessimistischer und optimistischer Einschätzung pendeln. Der Mittelwert würde etwa für klimaneutrale Gebäude den Zeitraum bis 2075 als machbar einschätzen. Das ist praktisch eine Generation mehr als es der politischen Absicht entspricht. Noch gravierender ist die Diskrepanz beim Punkt Verkehr, wo die Fachleute vom Jahr 2055 ausgehen, um 80 Prozent der Emissionen zu vermeiden und erst 2080 nahezu Null Kohlendioxid in die Atmosphäre gerät. Wunsch und Wirklichkeit driften bei dem pressierenden Thema des Klimaschutzes leider deutlich auseinander.

Download des Leitfadens Der weite(re) Weg zur Klimaneutralität

Anhand eines Mehrfamilienhauses in der Wiener Innenstadt zeigen die Experten, wie sich vom gegenwärtigen CO2-Aufkommen die Reduktionen entwickeln könnten. Ausgehend von einer Bruttogeschossfläche von 2.500 Quadratmetern und gegenwärtig 14.751 Tonnen CO2 über 100 Jahre würde der Energiebedarf für die Nutzung bis zum Jahr 2045 nahezu verschwinden. Am stärksten bliebe auch hier verständlicherweise der Aufwand für die Mobilität, der erst im letzten Drittel des 21. Jahrhunderts verschwinden würde. Zuversichtlicher stimmt allerdings die markante Verminderung der Emissionen: Im Szenario wird anschaulich, dass 2065 bloß 6,7 Prozent der heutigen CO2-Emissionen durch Errichtung, Mobilität und Energiebedarf verglichen mit dem heutigen Aufwand ausgestoßen werden.

Die Maßnahmen, um dieses Ziel tatsächlich erreichen zu können, sind entsprechend vielfältig. Wie entscheidend die Planung ist, versteht sich von selbst. Gebäude, die heute errichtet werden, werden voraussichtlich in 30 Jahren erstmals umfassend revitalisiert. Architektin Ursula Schneider, Teil des Autorenteams, betont: „Vom Entschluss, ein öffentliches Gebäude realisieren zu wollen, bis zur Fertigstellung vergehen je nach Größe fünf bis fünfzehn Jahre. Solange die Klimaneutralität nicht als Planungsziel explizit definiert ist, wird ein Gebäude auch nicht so geplant werden, ja nicht einmal der Standort nach diesem Kriterium ausgesucht werden. Hinsichtlich ausreichender Flächen zur Energieaufbringung am Gebäude mit PV oder Solarthermie müssten heute – wenn schon noch nicht gleich realisiert – wenigstens die notwendigen Flächen reserviert und von Aufbauten freigehalten werden. Das ist nirgendwo der Fall.“

Wertschöpfung neu definieren

Für die Life-Cycle-Analyse von Neuerrichtungen und des Bestandes maßgeblich sind die Befunde und Empfehlungen des Leitfadens zur Kreislaufwirtschaft. Ein zentraler Gedanke ist dabei die Entkopplung der Wertschöpfung vom Verbrauch endlicher Ressourcen, damit diese nachhaltig sind. Der neue Leitfaden setzt die Beispiele der Publikation „Leitfaden für ein kreislaufwirtschaftliches Planen und Konstruieren“ aus dem Jahr 2020 fort.

Verstärkt sind zwei Aspekte: die wachsenden Chancen durch Digitalisierung und der Druck durch gesetzliche Vorgaben, etwa durch die EU-Taxonomie, die für 2022 auch die Kreislauffähigkeit von Immobilien einfordert. Die bestmögliche Reduktion von Abbruchprozessen beginnt bei der Planung. Wenn aber zumindest 70 Prozent der Abriss- und Baustellenabfälle zur Wiederverwendung vorbereitet und verwertet werden müssen, dann versteckt sich die Herausforderung im Detail der Planung.

Zweifelsfrei ist der Abbruch nicht der erste Gedanke, der einem Planer kommen wird, wenn er mit autoCAD oder BIM an der Realisierung des nächsten Gebäudes arbeitet. Doch so wie kein Mensch eine Insel ist, ist es auch kein Gebäude. Deshalb ist die Kreislaufwirtschaft gerade beim Bauen entscheidend für die ökologische Wende. Der Leitfaden spricht alle Stakeholder an und bezieht sie in diese Aufgabe ein.

Knifflige Herausforderungen stecken aber auch in sehnsüchtig erhofften Innovationen wie der Digitalisierung. So zeigt sich in der Praxis, dass etwa bei einer digital geplanten Fassade eine Fassadenplatte nicht mit ihrer typischen Nenndicke von einem Zentimeter modelliert wird, sondern mit der Unterkonstruktion. Dadurch beträgt der Umfang allerdings fünf Zentimeter. Beim Auslesen der Mengen rechnet das Programm jedoch, als ob es sich um eine fünf Zentimeter dicke Fassadenplatte handelt. Somit verfünffachen sich die damit verbundenen potenziellen Global Warming-Werte. Auf dieses wie andere Probleme in der digitalen Planung macht das Positionspapier aufmerksam und schlägt Lösungen vor.

Praktische Maßnahmen

Grundsätzlich sind zwei Schwerpunkte festzustellen: die Verzahnung innovativer Technologien und Prozesse. Das bedeutet etwa beim Baustoff Holz nicht nur eine leimfreie, verdübelte Montage von Holzelementen an Wand und Dach, sondern etwa auch den richtigen Zeitpunkt der Ernte, um Feuchtigkeit und Schädlingsbefall so gering wie möglich zu halten. Eine solche Kreislaufwirtschaft nimmt die Ressource ernst und sorgt dafür, dass sie dank sortenreiner Trennbarkeit von Bauteilen und Materialien mehrfach genutzt wird. Ein Schlüssel, um die Emissionen zu minieren, besteht bekanntlich darin, sie erst gar nicht aufkommen zu lassen. Diesbezüglich schüren die Innovationen hinsichtlich Dekarbonisierung beispielsweise der Zementproduktion unter Verwendung erneuerbarer Energien Hoffnungen.

Ist in den Produkten gespeichertes Kohlendioxid enthalten, bleibt es verständlicherweise weniger belastend je länger und häufiger es eingesetzt wird: Am Markt sind zum Beispiel textile Bodenbeläge samt Rückenaufbauten auch als Upcycling-Produkte erhältlich. Diese sind etwa aus alten Fischernetzen oder PET-Flaschen hergestellt. Anschaulich zeigt der Leitfaden die komplexe Herausforderung bei der Zerlegung und Wiederverwendung von Gipsplatten.

Der politische Druck und die Innovation stehen in einem Wechselspiel: Wenn etwa ab 2027 Mineralwolle recycelt werden muss, bedeutet das für die Hersteller dafür zu sorgen, dass die Produkte diese eingeforderte Wiederverwertung ermöglichen. Wenn durch Innovation wie beispielsweise bei Carbonbeton verglichen mit Bewehrungsstahl weniger Ressource und diese zudem ökologisch vorteilhaft herstellbar ist, dann wiederum ist die Politik in der Verpflichtung, entsprechende Förderanreize zu setzen.

Rezepte fürs gesunde Bauen

Fünfzehn Prozent der globalen Treibhausgasemissionen entstehen durch die Eisen-, Stahl- und Zementindustrie. Das Beratungsunternehmen Ramboll hat in Zusammenarbeit mit Fraunhofer ISI und EcoLogic im Auftrag der Europäischen Umweltagentur berechnet, dass durch die Implementierung unterschiedlicher Maßnahmen der Kreislaufwirtschaft bis zu 60 Prozent der durch Materialnutzung in der Bauwirtschaft verursachten Treibhausgasemissionen verhindert werden können.

Die entscheidenden Parameter dafür sind, die eben erwähnte Ressourcenersparnis, Wiederverwendung von Bauteilen, Design for Reuse und natürliche Materialien. Eine Studie aus UK kommt zu dem Schluss, dass Gebäude auf der Insel mit 20 bis 40 Prozent weniger Stahl errichtet werden können ohne Qualitätseinbuße. Ferner entscheiden der klimafreundlichere Zement, das Recyclen wichtiger Baustoffe wie etwa Beton, die Lebenszyklusbetrachtung und die Reduktion des Energieaufwands für die Errichtung sowie Aspekte von Nutzungsdauer und volkswirtschaftlicher Relevanz über eine funktionierende Kreislaufwirtschaft. Basis dafür ist eine integrierte Kommunikation aller Stakeholder von der ersten Idee bis zur Zerlegung.