Stadtstraße für Wien: Großprojekt in Diskussion
Anlässlich der Räumung des Protestcamps bei der Hausfeldstraße hat DI (FH) René Bolz, wissenschaftlicher Mitarbeiter des FWU, Impressionen aus dem Gebiet dokumentiert: Asphalt- und Betonwüsten, autoorientierte Gestaltung, Baumfällungen, Rodungen,… „Hier zeigt sich ein erschreckender Widerspruch zwischen politischen Ankündigungen und realen Maßnahmen!“ kommentierte Prof. Dr. Reinhold Christian, geschäftsführender Präsident des FWU bei der PK am 14.02.2022 und hob hervor „Dabei gibt es in Wien zahlreiche positive Beispiele, lebenswerte Grätzel, die Wohlbefinden im öffentlichen Raum bieten und dem Ziel der ,15 Minuten Stadt‘ durch Funktionsmischung – Wohnen, Arbeit, Einkauf und Versorgung, Freizeit, Bildung – sehr nahe kommen. Verweilen im öffentlichen Raum ist hier angenehm – und dies gerade ohne Autobahnanschluss oder autobahnähnliche Gemeindestraße.“
Zum zentralen Problem der autoorientierten Mobilitätszwänge erläuterte em.o. Univ.Prof. DI Dr. techn. Hermann Knoflacher, Vizepräsident des FWU: „1972 hat Wien als erste Stadt der Welt aufgrund der Bürgerwiderstände, trotz damals ungehemmter Motorisierung, den bereits begonnenen Ausbau und die Pläne für Autobahnen gestoppt und 1974 eine neue Verkehrskonzeption in Auftrag gegeben. Das war eine radikale Abkehr von der autoorientierten städtischen Verkehrspolitik, die international beispielgebend wirkte, auch wenn die damals angestrebten Ziele noch lange nicht erreicht sind. Hätte die Stadtregierung damals so wie heute agiert und reagiert, Wien hätte nicht nur Autobahnen am Gürtel und am Donaukanal, sondern auch kein funktionierendes Straßenbahnnetz mehr, dafür aber unlösbare Umwelt-, Sozial- und Betriebsansiedlungsprobleme.“
Keine rechtsfreien Räume für Bürger – Bund und Länder machen sich Gesetze und Genehmigungen selbst
Zur Rechtslage hielt RA Dr. Josef Unterweger, Vorstandsmitglied sowie Schriftführer des FWU fest: „Die Räumung des Protestcamps erfolgte, um den AktivistInnen zu zeigen „dass es keine rechtsfreien Räume gibt“. Das stimmt. Es gibt keine rechtsfreien Räume für AktivistInnen. Für die Projektanten, für die Bundesländer und Gemeinden gilt dies auch. Sie schaffen sich aber die Gesetze selbst, beantragen die Projekte selbst, bewilligen sie sich selbst und kontrollieren sie selbst. Das ist dann nicht rechtsfrei, sondern gesetzeskonform.“
Die Stadt Wien hält sich nicht an den eigenen Bescheid und rodet zu früh zu viel
„Bewilligungen fehlen bei der Stadtstraße immer noch. Das Vorgehen war nicht rechtmäßig. Dazu gibt es eine Verhandlung am 18. Februar 2022. Geräumt wurde aber schon am 1. Februar 2022. Es wurden auch Bäume entfernt die vom Bewilligungsbescheid nicht umfasst sind. Die Stadt hat nicht nur geräumt, sondern auch gerodet – entgegen dem eigenen Bescheid. Das Bundesverwaltungsgericht hat am 4. Februar 2022 festgestellt, dass die Stadt Wien sich selbst zu Unrecht sofortige Bautätigkeit gestattet hat, unabhängig ob Beschwerden anhängig sind und Entscheidungen noch ausstehen. Die Stadt Wien hat geräumt und gerodet. Tatsachen sind geschaffen. Die Bagger haben den Richtern gezeigt, was Sache ist.“
Neue Herausforderungen erfordern neues Denken!
„Wien ist in vielen Bereichen des Klimaschutzes schon jetzt beispielgebend, und hat kürzlich einen zukunftsweisenden Klimafahrplan vorgelegt, mit dem es Netto Null 2040 schon sehr nahe kommt. “ setzte em.o.Univ.Prof. Dr. phil. Helga Kromp-Kolb, Präsidentin des FWU fort und hob hervor: „Dessen Umsetzung erfordert aber auch ein Überdenken und Neuplanen gerade großer Infrastrukturvorhaben, denn bauliche Infrastrukturen, bestimmen das Verhalten der Menschen auf Jahrzehnte hinaus. Aber schon in den kommenden 10 Jahren müssen die Emissionen in Wien mehr als halbiert werden. Es sind Lösungen gefragt, die gleichzeitig dem Klimaschutz, der Luftqualität, der Biodiversität, der Gesundheit und dem Sozialen dienen und auch wirtschaftliche Überlegungen nicht ausser Acht lassen. Unter Einbeziehung bestehender Pläne, aber nicht an diese gebunden, sollten neue Konzepte gemeinsam mit den Betroffenen erarbeitet werden. Neue Anforderungen erfordern neues Denken. Das gilt nicht nur für die Stadtstraße, sondern auch für andere noch nicht umgesetzte Vorhaben.“ Expert:innen der Scientists for Future haben das Gesamtprojekt Lobau-Autobahn, Stadtstraße und S1-Spange überprüft und festgestellt, dass es in Widerspruch zu den Zielen des Pariser Klimaabkommens, der Bundesregierung und der Stadtregierung (Klimaneutralität bis 2040) steht.
„Der Lobau-Tunnel, die S1, die Stadtstraße … sind nicht irgendein Projekt: Diese Straßen sind Symbol für eine veraltete, nicht zukunftsfähige Politik,“, hielt Christian abschließend fest. Das FWU fordert daher: „Alle Projekte – egal, ob sie schon in Arbeit sind oder noch in Schubladen liegen - müssen hinsichtlich Klimaschutz, aber auch Biodiversität, sozialen Wirkungen und vor Allem: Lebensqualität kritisch geprüft, bewertet und ggf. gestoppt bzw. durch zukunftsverträgliche Alternativen ersetzt werden. Ausschreibungsbedingungen, Planungsvorgaben etc. sind dem entsprechend zu gestalten. Partizipation ist für den Erfolg unabdingbar notwendig (und sollte ja selbstverständlich sein!). Der Rechtsrahmen ist für alle Lebensbereiche – von der Raumordnung über das Wohnrecht bis zum Verkehr – anzupassen“, so die Mitwirkenden unisono.