© Treberspurg Architekten

Gemeinschaftsprojekt Campo Breitenlee

Mit dem Plus-Energie-Quartier Campo Breitenlee am nordöstlichen Rand Wiens entsteht ein Ensemble, das zu 100 Prozent auf erneuerbare Energie setzt und auch Überschüsse sinnvoll zu verwerten versteht. Dass sich Forschung und Anwendung verzahnen, um zukunftsfittes Planen und Bauen zu optimieren, lässt sich hier an etlichen Details festmachen.

Mit der Fertigstellung im Jahr 2024 wird der Campo Breitenlee eine spannende Mischnutzung bieten: Wohnen, Werkstätten sowie Ordinationen und ein Kindergarten schaffen dann eine Miniaturstadt. Das Projekt ist ein von den Büros Treberspurg & Partner Architekten und synn Architekten geplantes Stadtquartier, das von den Bauträgern Wiener Heim und ÖVW entwickelt wird. Bemerkenswert an diesem Bauvorhaben, dessen Spatenstich im Herbst 2022 erfolgen wird, ist die Beteiligung der Forschung.

Mit dem vom BMK im Rahmen des Forschungs- und Technologieprogramms „Stadt der Zukunft“ geförderten „Zukunftsquartier 3 Demonstration“ (kurz ZQ3DEMO) ist eine wissenschaftliche Betrachtung involviert, die über die Effizienz etwa des Energieeinsatzes Klarheit gewinnen soll. Die Bauträger Wiener Heim sowie SÜBA, die ein weiteres Quartier in der Pilzgasse mit den Architekten Soyka/Silber/Soyka entwickeln sind ebenso in das Forschungsprojekt involviert wie zahlreiche Partner aus Planung und Forschung.

Die unter anderem an der BOKU am Institut für Raumplanung, Umweltplanung und Bodenordnung tätige Doris Österreicher begleitet diese Forschung und sieht insbesondere in der integralen Zusammenarbeit der Stakeholder ein lohnendes Beispiel für zukunftstaugliche Stadtplanung. Unter der Leitung von Urban Innovation Vienna (UIV) und gemeinsam mit Forschungspartnern wie dem Institute of Building Research & Innovation und dem FH Technikum sowie dem ebenfalls an der BOKU ansässigem Institut für Energie- und Verfahrenstechnik geht es auch darum, Replikationsfaktoren zu finden, die für weitere Projekte wegweisend sind.

Fläche, Effizienz und Ganzheitlichkeit

„Um Synergien spürbar zu entwickeln, muss ich systemisch denken“ lautet eine elementare Vision der Architektin und Stadtplanerin. Effektive Bodennutzung und intelligente Energiegewinnung sind maßgebliche Aufgaben jeder Planung. Das Denken über das singuläre Gebäude hinaus ist das Gebot für Quartiersentwicklungen und leistet damit einen Anschauungsunterricht, wie ausgeprägt letztlich die Wechselwirkungen von Gebäuden und ihrer Umgebung sind. „Das Wichtigste ist selbstverständlich, dass wir bereits in der Planung Optimierungspotenziale gemeinsam mit dem Planungsteam herausarbeiten. Da geht es auch um praktische Fragen, wie das Wärmepumpen-System geregelt wird, und welche Lösung welche Energievorteile bringt. Wir haben am Campo Breitenlee eine wetterprädiktive Steuerung. Die Prognose erlaubt dem Gebäude je nach Temperatur-Erwartung dank Bauteilaktivierung im Vorhinein zu wärmen oder zu kühlen.“

Vorausschauende Wohnungen zu haben, die den Nutzern gute Dienste leisten, erhöhen die subjektive Behaglichkeit und verbessern die objektive Energiebilanz. Die zwei Säulen der erneuerbaren Energiegewinnung werden bei diesem Plus-Energie-Quartier Photovoltaik und Geothermie sein. Doch wie integriert man diese sinnvoll in die Gebäude? „Wenn ein Konsortium aus Fachleuten zur Verfügung steht, dann kann man die Planung auf diese Details ausrichten und durchrechnen. Bei den meisten Projekten haben Bauträger nicht die Ressourcen für aufwändige Simulationen und Analyse von Varianten“, weiß Österreicher um einen bedeutsamen Vorteil der umsichtigen Datenerfassung und -auswertung. Es ist ein Wechselspiel der jeweiligen Schwerpunkte. Der im Elfenbeinturm vor sich hinzeichnende Planer ist ein Klischee von gestern.

„Wenn ich die Forderung stelle, möglichst viele PV-Anlagen zu berücksichtigen, dann muss ich das Zusammenspiel der Schächte bedenken. Wenn es zu viele werden, fehlen mir am Dach die Flächen für die Photovoltaik“, gibt die Wissenschaftlerin ein plastisches Beispiel für den engen Dialog von Forschung und Planung. Umgekehrt erkennt die Forschung praktische Probleme besser, wenn etwa aus Gründen des Bauablaufs manches Ideal nicht wie gedacht umgesetzt werden kann. „Es ist den Bauträgern ein großes Lob auszusprechen, dass sie sich auf diesen Prozess eingelassen haben“, hebt die Forscherin hervor, die bei einigen Projekten von Trebersburg & Partner Architekten federführend mitgearbeitet hat und deshalb mit der Schnittstelle Grundlagenforschung und Anwendung entsprechend vertraut ist.

Letztlich steckt im Kostenbewusstsein der Bauträger auch eine Qualität der ökonomischen Nachhaltigkeit, denn das wachsame Consulting prüft die monetäre Machbarkeit mancher Planungsideale. Insgesamt vollzieht der Campo Breitenlee Nachhaltigkeit auf allen Stufen, auch der sozialen. Wohnbund:consult hat das entsprechende Sozialkonzept erarbeitet und dank der Kooperationspartner neunerImmo und Juno werden Wohneinheiten für ganz verschiedene persönliche Lebenssituationen – sozial ausgewogen oder auch generationenübergreifend – im Quartier gegeben sein.

Mut, anders zu denken

Als Forscherin hat sich Österreicher wiederholt mit Nachverdichtung und dem Wandel städtebaulicher Prinzipien befasst. Dass der Bestand ein großes Plus europäischer Städte ist, wird nicht nur anhand der aktuellen Energie- und Lieferkettenkrise einmal mehr bewusst. In Neubauten können entsprechende Fassadenbegrünungen mit ausgleichender Wirkung auf das Mikroklima einfacher berücksichtigt werden, doch wie sehr empfehlen sich historische Bauten für dementsprechende Adaptierungen?

„Wir müssen mutiger sein im Denken. Viele Flächen sind von den Straßen nicht sichtbar. Sicherlich werde ich keine Frontfassade eines Jugendstilhauses begrünen, aber was spricht dagegen, Innenhöfe anders zu gestalten?“, animiert die Stadtvisionärin dazu, eherne Gesetze des Denkmalschutzes zu überdenken. Versiegelte Flächen klüger zu verwandeln, erscheint unumgänglich. „Wir kommen neben neuen Stadtentwicklungsgebieten nicht umhin, bestehende Quartiere zu optimieren. Wenn ich mir das Paradeenergiehaus mitten auf die grüne Wiese stelle, wird das nicht nachhaltig sein können. Dafür müssen schließlich die entsprechenden Infrastrukturen errichtet werden. Die vorhandenen Strukturen unseren zeitgemäßen Vorstellungen anzupassen, ist zielführender, denn je dichter ich baue, umso weniger Mobilität entsteht und umso geringer fallen infrastrukturelle Aufwände aus“, plädiert die BOKU-Wissenschaftlerin für eine überlegte Nachverdichtung.

Schließlich entstehen mit Bauvorhaben immer Herausforderungen. Werden Gebäude durch Aufstockung erhöht, entsteht im Parterrebereiche eine willkommene Verschattung, gleichzeitig muss ich Lösungen für den Wärme- oder Kälteeintrag in den neu gewonnen Geschoßen finden. Oft gelingt dies über passive Maßnahmen wie externe Verschattung, nicht immer muss es nur die massiv gedämmte Außenwand sein.

Was am Campo Breitenlee gelingen soll, nämlich die Mischnutzung und das Schlagwort des „gemeinsamen Wohnens und Lebens“, ist auch für viele Gründerzeitareale naheliegend. Schließlich war es schon vor mehr als hundert Jahren selbstverständlich, dass im Erdgeschoss Geschäftslokale liegen und darüber Wohneinheiten. „Oft hängt die Hemmung, bestehende Gebäude anders zu nutzen, auch an rechtlichen Aspekten. Manchmal ist es zu starr, welche Nutzung vorgegeben ist, das können wir auch aufweichen“, regt Österreicher an.

Mit manchen Ideen wird sich die Wissenschaftlerin nicht nur Freunde machen, aber es hat etwas Zukunftsweisendes, wenn sie laut über veränderte Rahmenbedingungen nachdenkt. „Wenn wir den Klimawandel meistern wollen, müssen wir auch zügig in der Sanierung vorankommen. Für den Mieter ist es schließlich entscheidend, was er am Ende zahlt. Wenn die Miete steigt und gleichzeitig die Energiekosten sinken, dann ist der Aufwand gleichbleibend, das Gebäude ist aber durch die Investition zukunftstauglicher geworden und die Energiebilanz verbessert“, schreckt die Architektin mit klimaadaptivem Schwerpunkt nicht davor zurück, heilige Kühe wie das Mietrechtsgesetz etwas ruppiger anzufassen. „Dafür braucht es adaptierte rechtliche Rahmenbedingungen sowie neue Geschäfts- und Fördermodelle.“

Das mitdenkende Gebäude

Die Erwartung, dass in Zukunft die Energiepreise volatiler werden und sich marktwirtschaftlich gestalten, könnte ein zusätzlicher Anreiz für Gebäude sein, die aktives Energiemanagement betreiben. „Wenn man situativ reagieren kann und einen entsprechend niedrigen Strompreis über eine Bauteilaktivierung abschöpfen will, der dann später genutzt wird, gewinne ich. Dadurch, dass das Gebäude träge ist, habe ich die Spitzen nicht, wenn ich die Wärmepumpe abdrehe. Ich spüre das sehr lange nicht, dass dann keine Energie mehr in meine Wohnung kommt. Das Gebäude ist effizient, dicht und behaglich. Diese Aspekte bringen auch den Nutzern etwas“, führt Österreicher aus.

Beim bald entstehenden Campo Breitenlee in der Podhagskygasse im 22ten Wiener Bezirk werden für die Regelungstechnik zwei Mechanismen existieren, die schon erwähnte prognostizierte Regelungstechnik und eine Erhebung für ausgewählte Vergleichswohnungen. Ab der Nutzung 2024 wird diese wissenschaftlich begleitet. „Ein Großteil des Monitorings wird im Rahmen des Forschungsprojektes verbaut. Wir gehen davon aus, dass dann auch ein Nachbetreiber die Daten weiter auswertet und zur Verfügung stellt“, so Österreicher. Für die Fachplanung der Quartiere sind Böhm Stadtbaumeister & Gebäudetechnik, Dr. Ronald Mischek ZT und hacon zuständig, die auch im Forschungsprojekt mitarbeiten.

Smart Readiness Indicator

Häuser als Energiespeicher sind auch eine Forderung, die mit der EPBD verbunden sind. Die „Energy Performance of Buildings Directive“ legt fest, dass in Zukunft ein sogenannter „Smart Readiness Indicator“ (SRI) zum Standard einer Gebäudebewertung gehören soll. Die deutsche Bezeichnung weist eine beträchtliche Silbenzahl auf: Intelligenzfähigkeitsindikator. Wie gut kann ein Gebäude auf äußere Einflüsse reagieren und sich flexibel um die Strom- und Wärmeversorgung kümmern? Vorerst existiert dazu eine EU-Verordnung. Die Länder prüfen gerade die passende nationale Formulierung und Umsetzung.

Ziel ist es, erneuerbare Energie möglichst effizient zu nutzen und die Lebensqualität hoch zu halten. Wenn ein kluges Gebäude nicht nur zur rechten Zeit kostengünstige Energie aus dem Netz holt, sondern auch dank seiner Speicherqualität für die spätere Nutzung bewahrt oder wiederum für die Einspeisung ins Netz zu einem attraktiveren Preis sorgt, dann ist das Gebäude ein Mitspieler in der kritischer werdenden Aufgabe, unsere Energiewünsche intelligent zu befriedigen. „Wir gehen davon aus, dass wir in Zukunft mehr Speicher in Gebäuden sehen werden. Erneuerbare Energie benötigt Speicher. Wenn wir möglichst viele Gebäude anbinden, dann schaffen wir so auch ernstzunehmende Größen. Eine Anlage mit ein paar KW mag verschwindend erscheinen, 100.000 sind es nicht“, gibt die Bautrendforscherin ein griffiges Beispiel für systemisches Denken in der Stadt- bzw. Raumplanung.

Selbst wenn das primäre Ziel darin besteht, den Bedarf zu reduzieren, erleben wir allein aufgrund des Wachstums einiger Städte eine Zunahme des Energiekonsums. Mit dem Campo Breitenlee entsteht ein Ensemble, das zu 100 Prozent auf erneuerbare Energie setzt und auch Überschüsse sinnvoll zu verwerten versteht. „Es gibt heute anders als vor zehn Jahren, gelbe, grüne oder weiße PV und nicht nur die blauen Siliziumflächen. In der Gestaltung habe ich deshalb mehr Möglichkeiten. Es gibt weiße Paneele, die sind gar nicht mehr als PV-Flächen identifizierbar, sie sind auch statisch leichter zu integrieren“, analysiert die Nachhaltigkeitsexpertin. „Gebäude sind viel mehr in ihrer Rolle gefragt, aktiv zum Energiesystem beizutragen, nicht einfach Nutzer zu sein, sondern durch die vorhandenen Flächen Energie zu generieren und zu speichern. Wir müssen einfach dorthin kommen, dass das von allen so verstanden wird.“